Gemeinden des Aufbruchs – aufbrechende Ekklesiologie (Ralph Kunz)

1 Religiöse Auskühlung?

In einem Interview gab der Religionssoziologe Jörg Stolz zu bedenken, dass es Gott nicht mehr geben würde, wenn niemand mehr glaubt, dass es ihn gibt.[1] Die Aussagen des Forschers animierte die Blattmacher zum Titel: „Steuern wir auf eine gottlose Gesellschaft zu?“ Das Ganze war violett unterlegt – also in der passenden liturgischen Farbe, wie sie unsere Schwesterkirchen kennen. Denn violett ist die Farbe der Umkehr, der Buße und Besinnung. Sie gehört zur Fastenzeit und Advent, Buss- und Beichtgottesdiensten, Totenmessen und Beerdigungen.  Violett ist aber auch die Farbe des Übergangs und steht für Verwandlung und die Hoffnung auf einen Neubeginn.

Ich bin nicht sicher, ob sich die Bildredaktion der NZZ so subtile und farbsensible Gedanken machten, als sie in den Farbtopf griffen. Der Kommentar des Journalisten und die Antworten des Interviewten sind eher etwas für Schwarzseher. Was Jörg Stolz zu sagen hat, verheisst den Kirchen eher eine düstere Zukunft. Stolz führt aus, dass die modernen Gesellschaften Religion durch Säkulares ersetzt haben und überall dort, wo Bildung, Wohlstand und Freiheit herrschen, das feu sacré des Glaubens ausgekühlt sei. Es sei denn man sieht das Ganze aus einer globalen Perspektive. In den nächsten Jahrzehnten werde die Welt nicht säkularer, sondern religiöser, weil ärmere Länder religiöser sind als reiche und eine höhere Geburtenrate aufweisen. Zu einer religiösen Auskühlung der Welt könnte es erst längerfristig kommen. Stolz räumt allerdings ein, dass dieser Trend kein Naturgesetz sei. „Aber was, wenn ein neuer Weltkrieg ausbricht? Er könnte selbst bei uns zu einer religiösen Klimaerwärmung führen.“

Wenn es also religiös aufwärts gehen soll, müssen wir entweder arm werden oder einen Weltkrieg anzetteln … Das ist nicht sehr hilfreich! Interessant finde ich die Metapher der religiösen Klimaveränderung. Sie ist widersprüchlich und offenbart die Farbenblindheit einer Wissenschaft, die mit einer säkularen Brille religiöse Phänomene deutet. Muss man es so verstehen, dass religiöse Wärme eine Reaktion auf die Kälte der Gesellschaft ist? Oder meint es, dass man sich die Säkularisierung als eine Art Eiszeit vorstellen muss? Wie muss man dann den religiösen Terror interpretieren? Als überhitzte Reaktion?[2]

2 Aufbruch

Man ist sicher gut beraten, nicht mit dem Feuer zu spielen. Ich für meinen Teil finde „Aufbruch“ eine weit ansprechendere Metapher als den Vergleich mit der Hitze. Aufbruch steht für einen Neuanfang. Es ist ein wunderbares Wort, das von Dingen sagt und singt, die im Gange und im Schwange sind. Aufbruch ist Bewegung, Frühling, Hoffnung, Lösung, Stosskraft, Neuland und Frischluft. Das wollen wir spüren. Darüber möchten wir reden. Und landen bei den Ressourcen und Strukturen, bevor wir auch nur einen Meter geflogen sind. Dann ist sie auch schon wieder weg: die Begeisterung, die mit dem Aufbruch gekommen ist.

Bin ich zu nüchtern? Vielleicht braucht der beherzte Aufbruch zuerst die Erfahrung einer Bauchlandung.  Vielleicht muss man eine oder zwei Reformen im Rohr krepieren sehen, um zur Erkenntnis zu gelangen, was wir wirklich nötig haben: eine Energie, die Bewegung sehen will und Lust macht, mit Gott über die verdammten Mauern der Angst zu springen. Wir wollen uns nicht lähmen lassen. Wir wollen raus ins Grüne.

Die Farbe des Aufbruchs ist grün. Grün ist im Kirchenjahr die Zeit nach Pfingsten. Es ist die Zeit der hellgrünen Buchen und der summenden Heuwiesen. Und es ist die Zeit, in der wir an die Geburtsstunde der Kirche denken, an das Ereignis, als die Flammen des heiligen Feuers erschienen sind, das feu sacré (heiliges Feuer), das nicht verbrennt. Grün ist die Farbe  der Apostelgeschichte, die Zeit der Wunder und Zeichen, die Zeit, in der der dreieinige Gott aufbricht, was feststeckt, die Zeit, die sich bis ins Heute streckt, denn „siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! “ (1. Kor 6:2).

Bin ich zu enthusiastisch? Ich denke nicht. Denn es geht immer um Aufbruch, wenn Glaube, Liebe und Hoffnung sprossen. Wenn wir der Verheissung trauen, dass wir eine Gemeinschaft sind, die sich gegenseitig hilft, den eigenen Kleinglauben zu überwinden, wenn wir unsere Fische und Brote teilen und dann unser Herz öffnen für den Überfluss, den Gott seiner Gemeinde schenkt, dann wächst das Vertrauen, dass Aufbruch geschehen kann.

 3 Vom Überfluss

Womit ich bei einem Stichwort bin, das den Aufbruch in ein anderes Bildfeld rückt. Der Überfluss steht für die Güte Gottes und für die Fülle seiner Schöpfung, die summt und brummt, saust und braust, weil das Lebendige wimmelt und den Schöpfer anhimmelt, der im Lobpreis vor Glück glänzt und glüht. Überfluss ist die Quelle, aus der wir schöpfen, das lebendige Wasser, das wir trinken, das Füllhorn, aus dem wir beschenkt werden. Oder wie es Johannes sagt: „Aus seiner Fülle empfangen wir Gnade um Gnade.“ (Joh 1,14) Im Griechischen steht hier „Pleroma“.  Es ist ein Bild, das wir nur mit ein wenig Anlauf verstehen, aber die antiken Leser auf Anhieb verstanden haben. Auf jeder Münze sahen sie nämlich den Kaiser mit den Hörnern, aus denen der Segen quillt. Die Botschaft war klar: „Ihm hast Du Deinen Wohlstand zu verdanken. Ihn sollst Du anhimmeln, den Cäsar, der für Dich sorgt.“

Was war das für eine ungeheuerliche Frechheit, als eine kleine Schar von Gemeinden im Imperium begann, Jesus Christus als Kaiser und König der Welt anzubeten und ihm allein diese Ehre zu geben. Mit dem tollkühnen Gebet, das wir heute noch beten: Dein Reich komme, Dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden. Das ist nichts weniger als die Revolution der alten Welt und der Aufbruch zu einer neuen Schöpfung!

Es lohnt sich, hier noch einmal zurückzublenden. Wenn Jörg Stolz sagt, dass sich Religion da abkühlt, wo Wohlstand, Freiheit und Bildung aufkommen, hat er natürlich Recht. Die coole Analyse hat aber eine heisse Konsequenz! Kommt es dennoch zu einem religiösen Aufbruch, sind ein Segen, eine Freiheit und eine Weisheit im Spiel, die mehr und anderes bieten als Sättigung. Man könnte auch sagen: Es gibt keinen Aufbruch ohne einen Ausbruch aus den goldenen Gefängnissen des Cäsars. Und wo die Befreiung gelingt, ist eine Kraft im Spiel, die sich gegenläufig und widerspenstig zum Zeitgeist verhält. Es geht nicht nur um Religion, um unseren Aufbruch und unsere Bedürfnisse. Es geht darum, Gott zu erfahren, der zu uns aufgebrochen ist. Von einer solchen Dimension ausserhalb oder jenseits weiss die Soziologie nichts. So zu reden, ist auch nicht ihre Aufgabe. Es ist unsere Aufgabe.

4 Nicht ganz bei Trost

Wenn wir aber glauben, was wir sagen, dass nämlich etwas zu uns, über uns und zwischen uns kommt, das nicht von uns stammt, ist die entscheidende Energie des Aufbruchs benannt. „Fürwahr, ich tue etwas Neues: schon sproßt es auf. Erkennt ihr es nicht?“ (Jes 43:19) Gott ist diese Energie. Darauf hoffen wir. Alles andere wäre vergebliche Liebesmüh. Wenn wir nur mit dem wirtschaften, worüber wir noch verfügen und nur mit dem hantieren, was wir noch besitzen, sind wir gefangen in der Abbruchlogik. Wenn wir dem Geist nichts zutrauen, müssen wir uns mit unserem Fleisch durchwursteln. Mit anderen Worten: die Alternative zur Hoffnung auf den Aufbruch, ist die Resignation über den Abbruch.

Wer das will, ist nicht ganz bei Trost. Wir dürfen der Trostlosigkeit dieser Alternative nur ja nicht ausweichen. Das ist das Geschenk der illusionslosen und visionsfreien soziologischen Prophetie! Dass sie uns nichts vormacht. Wir können zetern und hadern solange wir wollen. Nichts und niemand wird uns die Kirche zurückbringen, die wir einmal hatten. Darauf kommt es mir an: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Not und der Verheissung der Kirche, für den die Soziologie oder die Psychologie keine Erklärungen bereit hat. Es ist ein Zusammenhang, der in seiner Tiefe nur theologisch verstanden werden kann. Weil der Aufbruch immer Rückkehr dorthin ist, wo der Glaube entsteht.

5 Bruchgefahr

Darum kommen wir mit unseren Gemeinden keinen Millimeter vorwärts, wenn wir nicht umkehren und erleben garantiert keinen Aufbruch, wenn wir vor allem Bestehendes und Beständiges retten wollen. Aufbruch hat in der Spätzeit der Volkskirche auch diese unangenehme Seite und den Doppelsinn von Auf-Brechen. Wir müssen gewisse Vorstellungen von Gemeinde verabschieden und lernen, ungewohnte Wege gehen. Wir müssen, das was besteht befragen, um das, was entstehen soll, den Weg frei zu machen. Beides ist wichtig: Die Demut, umzukehren und der Mut, Neues zu wagen. Immer wichtiger wird es, die Geister zu unterscheiden.

Das hört sich in manchen Ohren unheimlich fromm an. Gemeint ist damit tatsächlich eine Prüfung. Welches Geistes Kind sind Reformen? Was ist der Wille Gottes? Das herauszufinden, ist das Fundament der Bewegung. Sonst geraten wir in Teufels Küche und streiten darüber, wer die richtige Strategie hat und weiss, wo Gott hockt.

Ich glaube, so kommen wir keinen Schritt weiter. Denn was am einen Ort richtig ist, ist am anderen Ort kreuzfalsch. Das macht Kirchenentwicklungs- und Kirchenreformprogramme, die nur top down funktionieren, krisenanfällig. Sie sind nicht falsch. Sie sind viel zu richtig. Sie suggerieren Machbarkeit. Das gilt aber auch für Modelle, die nur auf bottom up-Kräfte setzen. Es ist naiv zu meinen, man könne alles dem Priestertum aller Gläubigen überlassen. Und es ist dumm zu meinen, es gebe eine Zukunft ohne einen Aufbruch an der Basis und in der Basis.

Wenn wir nicht aufpassen, droht hier ein Bruch zwischen Zentrale und Peripherie oder Kirche und Gemeinde. Und weil die Analyse dieser Problematik beherzte Denkarbeit verlangt, treten wir besser einen Schritt zurück und versuchen zu verstehen, was in der Gemeinde- und Kirchenreformdiskussion in den letzten Jahren gelaufen und vielleicht auch schief gelaufen ist.

Wir sind ja nicht erst gestern daran, uns zu verändern. In einem gewagten Überflug über die letzten hundert Jahre sehen wir, dass sich die evangelische Kirche in einer institutionellen Dauerkrise befindet oder ein wenig netter formuliert: wie sie versucht, dem semper reformanda (immer Reform) gerecht zu werden und zumindest strukturell doch nicht recht vom Fleck kommt. Wenn man Veränderungsbereitschaft mit einem Fieberthermometer messen könnte, sehen wir folgendes Bild.

Es versteht sich von selbst, dass diese Phaseneinteilung nur grobe Muster erkennen lässt. Aber es hilft, wenn man den Blick etwas weitet und von einfältigen Mustern der Krise wegkommt.

  • Erstens gab es ein massives Krisenbewusstsein in der Kirche im 19. Jahrhundert, das vor hundert Jahren in der Bewegung der Volksmission alle Theologischen Lager beschäftigte: die Liberalen, die Sozialen und die Positiven. Unsere Gemeinden insbesondere die Idee der Kirchgemeindehäuser sind das Resultat eines Aufbruchs.

 

  • Zweitens hat das primär nicht mit dem Mitgliederschwund zu tun, sondern mit der Entfremdung der Massen und der Eliten. Nicht der Exodus der Zahlenden ist dramatisch, sondern der Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche. In den 1930er war es die Wort Gottes-Theologie, die sich z.T. explizit gegen die Volksmission auf eine Erneuerung durch Bibel und Verkündigung setzte. Eine Frucht dieser Erneuerung war die Junge Kirche und andere erweckliche Bewegungen (Brunner) nach dem II Weltkrieg.

 

  • Oft geht drittens bei der Erinnerung an die 1968er vergessen, dass es damals auch in den Kirchen heftig rumorte. Die junge theologische Avantgarde wollte Strukturen verändern. Es war die Hochzeit der Bildungshäuser: Rügel, Gwatt und Boldern. Die Parochie war out, Erwachsenenbildung war in.

 

  • In den 1980er Jahren setzten pietistische und evangelikale Kreise einen starken Akzent auf lebendige, missionarische Gemeinde. Der Begriff Gemeindeaufbau war ein Jahrzehnt lang Leitbegriff.

 

  • Um fünftens in den 1990er Jahren wieder aus Akten und Traktanden zu verschwinden. Es herrschte eine Reformeuphorie, die sich – man hört den Zeitgeist – eher auf Organisationsentwicklung zu kaprizieren.

 

6 Vom missionalen Aufbruch …

Bezeichnenderweise gibt es seit den 2000er Jahren so etwas wie eine Aufbruch-Ekklesiologie. „Emergent Church“ und „Missionale Kirche“ sind die Stichworte, die auch in diesem Buch fallen. Es ist m.E. nicht uninteressant, den Spuren des Aufbruchs nachzugehen:

  • Die zunehmende Globalisierung, Digitalisierung und Mobilisierung sorgt für einen regen Austausch unter den Szenen. Was in Australien „in“ ist, kommt am nächsten Tag in den Staaten gross „raus“ und kommt irgendwann nach Europa.

 

  • Zum missionalen Kapitel kommen andere Initiativen. Willow Creek in den Staaten, die FreshX-Bewegung in der Church of England, Glauben 2.0 in Deutschland aber auch Gemeindegründungen. Die Szenen sind durchlässig und haben klassische Frontstellungen überwunden.

 

  • Und es ist kein Zufall, ist der grosse Teil dieses Aufbruchs in kirchlichen Landschaften anzutreffen, in denen andere Verhältnisse herrschen als bei uns. Timothy Keller – ein Veteran der missionalen Bewegung – sagte es irgendwann einmal so: „If they do not, they will decline or die.“ Das ist nicht schwarz gemalt. Das ist die Realität.

Hinter dem Aufbruch steht also eine fundamentale Krise der Mission, die schon längstens alle Kirchen und Denominationen erfasst hat. Der Traditionsabbruch, der innerhalb einer halben Generation in den USA ganze Kirchenlandschaften leerfegte, wirkte aber schneller und nachhaltiger in den liberal geprägten Gemeinden. Es hat diejenigen getroffen, die uns atmosphärisch und theologisch am nächsten stehen: die protestantischen Mainline-Denominationen. Weil dort, wo sich die Kirchen leeren, auch diejenigen wegbleiben, die die Organisation bezahlen, ist aber sowohl in den Staaten wie in England der Druck, etwas zu tun, grösser und darum auch eine Aufbruch-Ekklesiologie entstanden, die bei uns erst in Ansätzen zu sehen ist.

Was tun wir, solange der Goldesel noch Steuergelder spuckt?  Eigentlich müssten wir sagen: Lasst uns in den Gemeindeaufbau investieren, bilden wir Pioniere aus und experimentieren wir mit neuen Gemeindeformen. Schicken wir Stosstrupps in die entfernten Ecken des lebensweltlichen Dschungels und gründen neue Filialen für Gottvater und die Mutterkirche.  Das müssten wir.  Und können es noch nicht so recht in unseren festgefahrenen und immer noch vergoldeten Strukturen.

7 Wer sind wir?

Nur wer ist eigentlich „wir“? Die Gemeinden? Kann man den Aufbruch delegieren? An die Pfarrpersonen? Soll man es den Gemeinden überlassen? Oder gar Gruppen überantworten? Kann man das alles finanzieren? Kann man im Ernst neue Gemeinden fördern, ohne eine geistliche Erneuerung zu wollen? Wie soll man Experimente ermöglichen, ohne anderen etwas zu nehmen? Ist es möglich den theologischen Humus, auf dem die Ideen gewachsen sind, samt Gemeinde-Modell in unseren Kirchen-Boden einzutopfen? Woher kommt die Kraft, miteinander aufzubrechen? Wer sind die anderen? Wer sagt uns, dass die Gemeinschaft der Heiligen hinter uns steht und uns den Rücken stärkt? Wer segnet den Aufbruch?

Wer sind wir? Darüber müssen wir reden. Es sagt uns niemand. Wir müssen selber aufbrechen und uns selber darum kümmern, wie und wo wir als Gemeinde(n) miteinander reden und beweglich werden können.

Um gemeinsam Entdeckungen zu machen und uns über das zu freuen, was der Heilige Geist schon aufgebrochen hat.  

Wer Ohren hat zu hören, hat das Stichwort mitbekommen. Wir sind die, die aufbrechen. Wer denn sonst? Aber wir sind auch die, die aufgebrochen werden. An uns und in uns muss geschehen, was durch uns in Bewegung geraten soll. Auch wenn wir nicht wissen, wie uns geschieht. Denn wir haben den Geist nicht im Sack. Es ist das einzige, was ich felsenfest behaupte: „Wenn nicht der Herr das Haus baut, müht sich jeder umsonst, der daran baut. Wenn nicht der Herr die Stadt bewacht, wacht der Wächter umsonst.“ (Ps 127,1)

Es ist kritische Weisheit vom Feinsten und eine biblische Hoffnung mit einem Zug ins Trotzige. Sie muss aber den Reformierten, die gerne selber denken, zu denken geben. Selber bauen zu wollen, wäre dumm. Aber daran zu zweifeln, dass der Herr sein Haus baut, noch dümmer. Die kritische Weisheit ist sozusagen der Schattenwurf einer theologia gloria, ihre Korrektur. „Also auch ihr; wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte; wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren.“ (Lk 17.10) Aber bitte, wenn ihr alles getan habt und nicht davor. Die kritische Weisheit braucht auch das Licht, das man nicht unter den Scheffel stellt. So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, wie die Stadt auf dem Berg, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. (Mt 5:14-16)

Jesus sagt, die Leute sollen den Vater im Himmel preisen. Und nicht die Sozialbilanz. Auch nicht den Jazzchor oder Ernst Siebers Schaffellmütze.  Es ist gut, fällt uns Reformierten, die gerne alles selber machen, dann und wann dieser Zacken aus der Krone.

8 … zur Geduld

Missionale Ekklesiologie kann bei den Reformierten durchaus punkten. Das ist erfreulich.  Es ist zu hoffen, dass wir bald mehr kontextuelle Gemeinden in unseren Kirchen sehen. Aber mit ihr kommt auch ein Aktivismus in die Kirchenentwicklung, der für das Wirken des Geistes, das Gebet und die Feier keine Zeit und kein Verständnis aufbringt. Ist es das, was wir brauchen?

Alan Kreider macht ein ganz starkes Plädoyer für die Geduld, die wie Hefe wirkt. Sein Buch liest sich wie eine Antithese zum missionalen Konzept. In keiner Weise aggressiv oder besserwisserisch ist es ein konstruktiver Kontrapunkt.

Kreiders Leitbegriff ist das Ferment. Christen wirken dadurch, dass sie treu tun, was Ihnen aufgetragen ist: Sie beten und tun das Gerechte. Es ist das erstaunliche Zeugnis der frühen Kirche, das der Mennonit herausarbeitet: dass sie ihre Toten anständig begraben, dass sie solidarisch leben in und mit ihrer Nachbarschaft, dass – für die Antike unglaublich – Sklaven und Herren, Frauen und Männer Teil  derselben Kultgemeinschaft sind. Dass ein Geheimnis gefeiert wird und diese Feier von einer entrückenden Schönheit ist. Dass man herzlich eingeladen ist, in diese Mysterien einzutauchen und zu lernen, sich zu bilden und sich taufen zu lassen.

Das Zeugnis der alten Kirche war nicht laut oder spektakulär. Die offizielle Meinung über die Kirche war zeitweilig katastrophal. Christen war ein Schimpfname. Verschrien waren sie als Atheisten. Sie erlitten es und strahlten eine Kraft aus, die am Schluss das Imperium, das seine Cäsaren als Götter verehrte in die Knie zwang. „Auf daß sich in dem Namen Jesus‘ beugen alle Knie, derer die im Himmel, die auf der Erde sind.“ (Phil 2:10)

Soweit sind wir aber noch nicht. Gerade Gemeinden, die sich im Aufbruch wissen, sollen darum nicht vergessen: Es gab Zeiten, da wuchs die Kirche, weil sie geduldig war und es gab Zeiten, da musste sie das Haus, das sie selber baute, verlassen und wie Abraham losziehen. Wären die irischen Mönche in Irland geblieben, wäre St. Gallen samt den Appenzellern immer noch heidnisch. Aber die Mönche sind gekommen und sind treu geblieben. Sie wirkten als Ferment in der Kultur, wie die Zisterzienser in Kappel am Albis geblieben sind, um das Land urbar zu machen, neue Methoden der Landwirtschaft zu erfinden. Sie beteten beinahe 500 Jahre, bis ein Abt namens Bullinger mit der monastischen Tradition gebrochen hat und ein kollektiver Aufbruch uns das bescherte, was wir heute reformiert nennen.

6 Schluss in Grün

Die Idee, dass sich reformierte Gemeinden ständig reformieren, ist nicht neu. Was aus einem Aufbruch wird, weiss man per Definition nicht. Biblisch gesprochen: Siehe, schon sprosst es. Eine Ekklesiologie des Aufbruchs, die uns eine gemeinsame Sprache gibt. Dass wir einander verstehen und wissen, wer wir sind.

Ich habe mit Violett begonnen und schliesse mit Grün. Es ist die messianische Farbe. Chagall hat es in den Fenstern im Fraumünster ans Licht gebracht. Links vom grünen Messias ist der blau Kämpfer, Jakob der streitbare, der auszog und träumte von Leitern, auf denen die Engel hinunterstiegen, rechts vom grünen Messias ist David der Sänger, der seine Gesänge aufsteigen lässt; über ihm das himmlische Jerusalem. In der Mitte der erhöhte Gekreuzigte – als Krone der Schöpfung aus der Fülle des Lebens. Ein Gemisch aus Blau und Gelb.  Die richtigen Farben zu mischen, ist eine Kunst. Nicht alles vermengen, nicht Pluralismus um jeden Preis, macht Unterscheidungen nötig. Sonst sieht die Gemeinde bald aus, wie mein Malkasten in der 3. Klasse. Weil ich den schwarzen Pinsel nicht auswusch, ist alles graubraun geworden – das ist ungefähr die Farbe eines trockenen Kuhfladens!

Gemeinden im Aufbruch sind ein bunter Haufen. Darum braucht es auch ein wenig Farbenlehre. Dass wir uns klug und gut mischen, miteinander teilen, und verbinden, einander annehmen und auch einmal streiten, dann wieder zusammen kommen und einander immer grün sind.

[1] Das Interview erschien am 7. April 2017 in der NZZ. Jörg Stolz wurde von Urs Hafner interviewt. Siehe: https://www.nzz.ch/gesellschaft/saekularisierung-moderne-gesellschaften-brauchen-keine-religion-mehr-ld.155845 (10.12.2018)

[2] Heine